Wie hat sich die Wirtschaft in den neuen Bundesländern entwickelt? Die Löhne sind rasant gestiegen - doch nur in elf Jahren wuchs Ost besser als West. Woher rühren die Unterschiede?
Vor knapp drei Jahrzehnten fiel die Mauer, die innerdeutsche Grenze verschwand. Sind die beiden Landesteile seitdem zusammengewachsen, aus wirtschaftlicher Sicht?
Zunächst einmal: Die Lebensverhältnisse haben sich durchaus angeglichen. Umgerechnet in Euro lagen die Bruttolöhne 1991 im Westen noch gut doppelt so hoch wie im Osten. Dieser Abstand ist 2019 deutlich geringer geworden.
Allerdings: Zusammen gewachsen sind Ost und West nur selten, die Wachstumsmuster unterscheiden sich stark. Auffallend ist auch: Die neuen Bundesländer konnten vor allem in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung wirtschaftlich aufholen. Insgesamt aber - das zeigt eine Gegenüberstellung des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) - entwickelte sich die Wirtschaft im Osten nur in elf Jahren besser als im Westen (weitere Statistiken finden Sie im Buch "Vereintes Land" des IWH).
Besonders drastisch zeigt sich das bei der Bilanz des derzeit gerade endenden Boom-Zirkels der deutschen Wirtschaft insgesamt. Die Zahl der Jobs in Deutschland nahm in den vergangenen Jahren rasant zu, die Zahl der Erwerbstätigen ist seit 2005 von damals etwa 39 Millionen auf zuletzt 45 Millionen gestiegen.
Der Jobmarkt: Bis heute ist der Kahlschlag nicht kompensiert
Mehr Jobs bedeuten in der Regel eine höhere Wirtschaftsaktivität und mehr Wirtschaftskraft. Doch die neuen Stellen sind fast ausschließlich im Westen entstanden: Die Anzahl der Erwerbstätigen ist im Westen von 2005 bis 2018 von 33 Millionen auf 38 Millionen gestiegen, in den fünf ostdeutschen Flächenländern hingegen lediglich um 300.000 auf 5,9 Millionen. Mehr noch: Verglichen mit 1991 gibt es dort noch heute rund 800.000 Stellen weniger.
Was im Osten ab 1990 geschah, wird in der Forschung "Transformation von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft" genannt. Diese abstrakte Beschreibung erfasst aber nicht einmal im Ansatz die Wucht der damaligen Verschiebungen: Nicht nur Jobs fielen weg, sondern ganze Berufszweige. Binnen weniger Jahre musste die Wirtschaft einen Strukturwandel nachholen, der im Westen über Jahrzehnte mehr beiläufig abgelaufen war, von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. 1989 arbeiteten im Osten noch knapp 50 Prozent der Beschäftigten in der Industrie, 1991 waren es nur noch 26,6 Prozent (Westen: 28,7 Prozent).
Anteile, Prozente - auch das sind abstrakte, sehr kühle Umschreibungen massiver Erschütterungen. Ein Beispiel: Als die Treuhandanstalt 1990 mit der Privatisierung der ehemals volkseigenen DDR-Betriebe begann, arbeiteten in diesen Betrieben mehr als vier Millionen Menschen. Als die Treuhand sich 1994 wieder selbst auflöste, waren davon gerade noch 1,5 Millionen Jobs übrig.
Obwohl zugleich im Dienstleistungsbereich viele neue Arbeitsplätze entstanden, stieg die Arbeitslosigkeit rapide. Sie lag von 1993 bis 2007 anderthalb Jahrzehnte durchgehend über 15 Prozent und löste eine Abwanderungswelle nach Westen aus. Sie zog vor allem ab Mitte der Neunzigerjahre, zu einem Zeitpunkt also, als vielen Ostdeutschen klar wurde, dass sich eine Besserung wohl nicht schnell einstellen würde.
Demografie: Auf nach Westen - den Jobs hinterher
Der Bevölkerungsverlust fiel massiv aus. Vier ostdeutsche Flächenländer haben seit 1991 einen zweistelligen Anteil ihrer Bevölkerung verloren. Die einzige Ausnahme bildet Brandenburg, weil das Berliner Umland vom Zuzug profitiert.
Der Umzug nach Westen - etwa nach Bayern - war für viele Ostdeutsche und ihre Familien eine Lösung für ihre Probleme. Für ihre Heimatbundesländer aber hat diese Entwicklung ein neues Problem geschaffen, unter dem die Wirtschaft dort nun leidet: den Fachkräftemangel. Der Aufschwung der vergangenen Jahre hat in den neuen Bundesländern zwar in geringerem Ausmaß neue Jobs geschaffen als im Westen. Aber selbst zur Besetzung dieser Stellen fehlen oftmals die geeigneten Menschen. Die demografische Entwicklung wird zur neuen Bremse der ostdeutschen Wirtschaft.
Das begrenzt auch die Möglichkeiten, den Abstand zum Westen weiter zu verkleinern. Tatsächlich hat die Wirtschaft in den neuen Ländern in den ersten fünf Jahren nach der Wiedervereinigung große Fortschritte etwa bei der Produktivität gemacht. Der Aufholprozess ist seither aber ins Stocken gekommen. So erreicht bis heute kein einziges Ost-Bundesland das Produktivitätsniveau des Saarlands - also jenes Landes, das im Westen bei der Produktivität an letzter Stelle liegt.
Die Produktivitätslücke: Folge einer ungünstigen Wirtschaftsstruktur?
Die Gründe dafür sind vielfältig - und schwer zu beheben. An den Investitionen der Unternehmen liegt es jedenfalls nicht. 1990 waren etwa die Maschinenparks vieler Ostbetriebe in schlechtem Zustand. Das hat sich seither gründlich geändert: Das Bruttoanlagevermögen pro Beschäftigtem ist inzwischen auf 88 Prozent des Westwerts gestiegen - und das trotz geringerer Wirtschaftskraft im Osten.
Manche Ökonomen weisen darauf hin, dass Ostdeutschland eine ungünstigere Wirtschaftsstruktur als viele Regionen im Westen aufweist: Große Firmen haben in der Tendenz eine deutlich höhere Produktivität als kleine Betriebe. Das gilt im Osten wie im Westen - allerdings haben die neuen Länder massiv damit zu kämpfen, dass es dort insgesamt viel weniger große Betriebe gibt.
Die Privatisierungswelle Anfang der Neunzigerjahre hat zudem eine sehr spezifische Eigentümerstruktur hervorgebracht: Nur fünf Prozent der Betriebe gingen an Ostdeutsche, 95 Prozent der Firmen hingegen an Investoren aus dem Westen oder dem Ausland. Viele der Ostbetriebe wurden also in bereits bestehende Strukturen integriert.
Eine Folge davon: Bereiche wie Forschung und Entwicklung und andere besonders hochwertige Tätigkeiten sind nur sehr selten an Standorten in Ostdeutschland angesiedelt.

Die Produktivität ist in den neuen Ländern geringer - über alle Betriebsgrößen (Quelle: IAB Betriebspanel, IWH)
Das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle nennt zudem noch eine weitere Erklärung: die "Effizienz der betrieblichen Organisation". Das kommt recht sperrig daher, birgt aber durchaus Sprengstoff, denn dahinter steht die Vermutung, dass Betriebe im Osten strukturell weniger gut organisiert sind. Eine mögliche Erklärung nennt das IWH auch: die Betriebe hätten sich an niedrige Löhne und üppige Subventionen für erhaltene Jobs gewöhnt - und deshalb zu wenig Anreiz, effizienter zu arbeiten.
Dem Osten fehlen also an vielen Orten starke Lokomotiven: Konzerne, aber auch mittelständische Betriebe in der Provinz, die dank Globalisierung und eigener Exportstärke zu Firmen mit Milliardenumsatz herangewachsen sind. Im Westen gibt es in vielen Regionen mehrere davon - im Osten sind sie sehr selten.
Ein Blick auf die Zentralen-Verteilung der 500 größten deutschen Firmen zeigt das: Während in Ostdeutschland rund 20 Prozent der Bevölkerung leben, haben dort aber nur 36 größere Firmen ihren Sitz, das entspricht einem Anteil von sieben Prozent.
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Allerdings gibt es zahlreiche Hinweise, dass die zugrunde liegenden Strukturunterschiede zum Westen historisch bedingt - und teils sogar älter als Deutsche Einheit und sogar die deutsch-deutsche Teilung sind.
So war die Wirtschaftskraft im eher ländlich geprägten Mecklenburg-Vorpommern bereits im 19. Jahrhundert geringer als im Landesschnitt. Manche Forscher wie der Görlitzer Sozialwissenschaftler Raj Kollmorgen weisen auch darauf hin, dass einige der Strukturunterschiede zwischen Ost und West sich bereits im Mittelalter entwickelt haben.
2019-10-03 07:03:00Z
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