Russisches Roulette. Natürlich. Irgendwann wird sich der namenlose Erzähler in Viet Thanh Nguyens Roman »Die Idealisten« eine Waffe an den Kopf halten, mit scheinbar nur einer Kugel geladen – den Regeln dieses Spiels folgend, das seit dem Vietnamkriegsfilm »Die durch die Hölle gehen« aus dem Jahr 1979 zum popkulturellen Standard gehört.
In seinem Vorgängerroman »Der Sympathisant«, für den Nguyen den Pulitzerpreis erhielt, schickte er seinen Antihelden auf eine Reise, die ihn von Saigon in den letzten Tagen des Vietnamkriegs in die USA führte, wo er als kommunistischer Undercover-Agent zum Mörder wurde, und wieder zurück nach Vietnam, in eines der berüchtigten Umerziehungslager, in dem er durch Folter zu einem absurden Geständnis gezwungen wird.
Ein Zwischenstopp auf diesem Höllentrip: die Philippinen. Dort landet er am Set eines Films, dessen reales Vorbild »Apocalypse Now« ist, neben »Die durch die Hölle gehen« der wohl einflussreichste Vietnamfilm aus US-amerikanischer Produktion. Wie wir uns an den Vietnamkrieg erinnern, kritisiert Nguyen, wird vor allem von den wirkmächtigen Bildern des US-Kinos bestimmt.
Von der verführerischen, aber auch zerstörerischen Allmacht der US-Kultur erzählte Nguyen in »Der Sympathisant«, dem Spionageroman, der auch in Deutschland ein Bestseller war. In der Fortsetzung »Die Idealisten« nimmt Nguyen nun Frankreich ins Visier, die Nation, die Vietnam fast 100 Jahre lang als Kolonie ausbeutete.
Für Nguyens Hauptfigur, die die Umerziehungslager schwer traumatisiert überlebt hat und jetzt in Paris lebt, bedeutet der Ortswechsel auch eine Annäherung an seine Herkunft: Er ist der Sohn eines französischen Priesters und einer vietnamesischen Bäuerin. Und er hasst Frankreich, während er es auch bewundert, eine Bewunderung, für die er sich wiederum verachtet. Einer von zahllosen scheinbar unauflösbaren Widersprüchen, die ihm zu schaffen machen. Widersprüche, die auch Nguyens Leben bestimmen: »Ich fühlte mich immer fehl am Platz, egal wo ich war«, sagte der 50-Jährige, dessen Eltern mit ihm 1975 aus Vietnam in die USA flüchteten, vor Kurzem im »Guardian«.
In der Reihe der großen unglaubwürdigen Erzähler
»Vielleicht bin ich kein Spion oder Schläfer mehr, aber fast sicher bin ich ein Geist.« Der erste Satz in »Die Idealisten« variiert den Beginn von »Der Sympathisant« – und leitet über zu einer Art Cliffhanger: »Wie auch nicht mit zwei Löchern im Kopf, aus denen die schwarze Tinte sickert, mit der ich diese Worte schreibe. Was für ein eigenartiger Zustand, tot zu sein und dennoch in meinem kleinen Zimmer im Paradies diese Zeilen zu verfassen.«
Berichtet der Erzähler tatsächlich aus dem Jenseits? Das dürfte noch weniger wahrscheinlich sein als seine Behauptung, bei »Der Sympathisant« handele es sich um die finale Version seines Geständnisses aus dem Umerziehungslager.
Nguyens Held reiht sich ein in die Reihe der großen unglaubwürdigen Erzähler und Anti-Helden von Humbert Humbert aus »Lolita« bis zu Patrick Bateman aus »American Psycho« – tatsächlich wirft »Die Idealisten« die Frage auf, inwieweit sich nicht auch schon der erste Roman Nguyens aus den Fantasien eines ob der erlebten Schrecken wahnsinnig Gewordenen speiste. Anders als in vielen Thrillern – Nguyen bedient sich etlicher Versatzstücke des Genres – wird dem Leser nicht noch das Unwahrscheinlichste als real verkauft, sondern selbst das scheinbar Reale, das Alltägliche als mögliche Fiktion oder gar Wahnvorstellung gezeigt. Eindeutig ist hier nichts, alles wird von Nguyen doppelt und dreifach codiert, verrätselt oder zumindest angezweifelt – in besonderem Maße die großen Erzählungen der Menschheit, ob Kapitalismus, Kommunismus oder Christentum.
Entwickelte sich die Story in »Der Sympathisant« noch relativ linear, beschreibt »Die Idealisten« unermüdlich Kreisbewegungen, immer wieder drehen sich die Gedanken des Erzählers um dieselben Themen – die erlittenen Traumata, vor allem aber die eigene Doppelexistenz. Der »verrückte Bastard«, wie er aufgrund seines französischen Vaters genannt wird, kommt aus einem Land, das zwischen Nord und Süd zweigeteilt war, und er hat große Teile seines Lebens als Spion undercover verbracht. Das eine scheinen, das andere sein, das übersteht auf Dauer niemand unbeschadet.
Orgie mit pseudo-authentischem Flair
Nguyens Erzähler lebt in »Die Idealisten« weiter unter falscher Identität, sein bester Freund Bon, ein fanatischer Kommunistenkiller, etwa ahnt nichts von seiner Janusköpfigkeit. Gemeinsam versuchen die beiden, sich in Paris ein neues Leben aufzubauen, und dass sie sich ausgerechnet einer Bande von Drogenhändlern und Zuhältern anschließen, ergibt sich eher zufällig.
Die Ansprüche an die beiden sind vielfältig: Mal geraten sie in blutige Auseinandersetzungen mit verfeindeten Gangs, mal müssen sie als Angestellte bei einer Orgie für pseudo-authentisches Flair sorgen, bei der sich als Unterdrücker verkleidete alte weiße Männer unter jungen Frauen bedienen dürfen: »Geheimnisvolle Ladys sind zu erobern, von der heißblütigen Guerrillera des Vietcong, bis zur palästinensischen Freiheitskämpferin, die gerade erst von einer Flugzeugentführung heimgekehrt ist«, preist ein Zeremonienmeister den Abend an. Mitten im Geschehen: ein Karrierepolitiker, Mitglied der Gauche caviar, sozialistischer Eliten, die dennoch die Früchte des Kapitalismus genießen – und die Nguyen schlimmer darstellt als die meisten Gangster.
Rassismus, Sexismus und Klassismus, immer im Zusammenhang mit Kolonialismus, sind die zentralen Themen Nguyens, dessen Geschichte zu Beginn der Achtzigerjahre spielt und der dennoch auch vom heute erzählt. Manchmal lässt Nguyen seinen Protagonisten etwas zu weitschweifend und theorieselig werden, dann schreibt er Lesern, die mit Adorno, Derrida, Kristeva & Co weniger vertraut sind, Knoten ins Hirn. Aber selbst in diesen Passagen bewahrt Nguyen seinen bitteren Witz, seine unerschöpfliche Eloquenz, seinen klaren Blick auf die gesellschaftlichen Verwerfungen.
Zum Schluss lässt Nguyen seinen Helden auf seine Nemesis treffen – den Jugendfreund, der zugleich der Folterer aus dem Umerziehungslager zu sein scheint – und beendet seinen Roman mit der originellen Variation eines klassischen Showdowns. Nguyen bietet seinem inzwischen ziemlich lädierten Helden eine Art Ausweg aus den Dilemmata, in denen er sich befindet, verwandelt ihn – als Antithese zum kapitalistischen Superhelden James Bond – in einen »Spion, der nichts liebte«.
Nichts zu tun, an nichts zu glauben, das bedeutet für ihn nicht Nihilismus, sondern die Alternative zu den Millionen Toten, die aufgrund der Dialektik von Hoffnung und Ausbeutung, die im Namen von Ideologie gestorben sind. Gewaltlosigkeit scheint ihm, dem Spion und Mörder, schließlich der einzige Weg, »uns nicht zu Spiegelbildern unserer Kolonisatoren zu machen«. Auf dass am Ende die Menschlichkeit triumphieren möge »in dem immerwährenden russischen Roulette, das die menschliche Spezies mit sich spielt«.
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