Wolfgang Schäuble gegen schnelle Entscheidung in Sachen Kanzlerkandidatur - und für eine Minderheitsregierung in Thüringen
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hat sich dagegen ausgesprochen, die Entscheidung über die Kanzlerkandidatur der CDU bereits bis zum Sommer zu fällen und seine Partei zugleich aufgefordert, eine Minderheitsregierung in Thüringen zu ermöglichen.
"Wenn wir glauben, wir müssten die Dinge wieder so machen wie in den Siebziger- und Achtzigerjahren, braucht man uns nicht. Man braucht uns, wenn wir eine Antwort darauf haben, wie die Welt in den Zwanziger- und Dreißigerjahren dieses Jahrtausends funktioniert. Das ist auch der Sinn unseres Grundsatzprogramms, und damit haben wir ja noch gar nicht richtig angefangen. Deshalb sollten wir jetzt nicht gleich wieder damit aufhören und die Kraft haben, dem Druck einiger Medien nicht nachzugeben und über die personellen Fragen erst Ende des Jahres zu entscheiden", sagt Schäuble im Interview mit der Wochenzeitung "Die Zeit".
Die Ereignisse in Thüringen bezeichnet Schäuble als "Katastrophe." Und weiter: "Ich hätte so etwas nicht für möglich gehalten, weil ich mir einfach nicht vorstellen konnte, dass man so wenig vorhersieht, was für unabsehbare Folgen eine solche Geschichte haben kann."
Die CDU habe sich richtigerweise gegen eine Koalition mit der Linken entschieden. "Nun haben wir aber eine Situation, wo AfD und Linkspartei zusammen über 50 Prozent haben. Dann darf man sich nicht nur auf Verhinderung beschränken, sondern muss eine Regierung ermöglichen, notfalls auch eine Minderheitsregierung. Ich sage seit der letzten Bundestagswahl, dass es möglich ist, wie in anderen europäischen Ländern mit Minderheitskonstellationen stabil zu regieren. Dass man das in Thüringen nicht gemacht hat, war ein Fehler", so Schäuble.
Die Krise des politischen Systems sei auch dadurch verursacht, "dass wir in den letzten Jahren zu wenig gestritten haben, ob in Volksparteien oder in Koalitionen, bis hin zu dem Versuch, alles in 250-seitigen Koalitionsverträgen festzuzurren." Das politische System beruhe auf Kompromissen, "aber eben auch auf Streit, Alternativen und Entscheidungen. Und dazu braucht man auch Führung und Charisma."
Schäuble verteidigt die Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer. Es sei "völlig unsinnig", ihr vorzuwerfen, sie habe sich in Thüringen nicht durchsetzen können: "Entschuldigung, Abgeordnete sind nur ihrem Gewissen unterworfen. Das steht in der Verfassung. Deswegen kann ich auch nicht aus Berlin sagen: Ihr macht das jetzt so – auch nicht als Koalition, auch nicht als Parteivorsitzende oder Kanzlerin."
Worauf Schäuble anspielt: Angela Merkel hatte nach der Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich gefordert, dass das Ergebnis der Wahl "rückgängig gemacht werden muss". In der Folge kam Kritik auf, dass die Kanzlerin damit einer demokratische Wahl die Gültigkeit abspreche.
Kramp-Karrenbauers Entscheidung, nicht als Kanzlerkandidatin anzutreten, habe natürlich "auch damit zu tun, dass Frau Merkel sich gezwungen gesehen hat, 2018 entgegen ihrer Überzeugung vom Grundsatz abzuweichen, dass Parteivorsitz und Kanzlerschaft in einer Hand sein sollten. Es sei ein Risiko, hat sie gesagt, aber es könne gutgehen. Seit gestern wissen wir: Es ist nicht gut gegangen." Nun sei die CDU wieder in derselben Lage wie im Herbst 2018. "Und wir haben jede Verantwortung, das sage ich als Parlamentspräsident, diese Legislatur gut zu gestalten." (Tsp)
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