Es läuft gut für Boris Johnson – Seite 1
Wahlen im Dezember
verheißen in Großbritannien nichts Gutes. Jeden Winter die gleichen
Hiobsbotschaften: Überschwemmungen, Notstand im Gesundheitssystem und wütende
Bürger. Dieses Jahr ist es besonders schlimm: Im Nordosten Englands versinken
ganze Landstriche unter dem Hochwasser der Flüsse. Im Gesundheitssektor ist die Warteliste im September auf einen Rekord von 4,4 Millionen Patienten gestiegen. 15 Prozent dieser Patienten warten bereits seit mehr als vier Monaten auf eine Untersuchung, Behandlung oder Operation. Das sind
nicht die besten Schlagzeilen, um am 12. Dezember die Wahl zu gewinnen.
Dennoch schlägt sich der britische Premier Boris Johnson nicht schlecht. Die auf die Brexit-Anhänger und die Arbeiterschicht ausgerichtete Wahlkampagne zeigt Erfolg: Nach der jüngsten Meinungsumfrage von Savanta ComRes wollen 40 Prozent der Wähler für die Konservative Partei stimmen, 30 Prozent für Labour, 16 Prozent für die Liberalen und nur sieben Prozent für die Brexit-Partei. Solange die Konservativen einen Vorsprung von sechs Prozentpunkten haben, werden sie gewinnen, so der britische Wahlexperte Professor John Curtice.
Wichtig: Die Umfrage fand statt, nachdem der Vorsitzende der Brexit-Partei, Nigel Farage, verkündet hatte, dass seine Partei in den 317 Wahlkreisen der Tories, die diese in der Wahl von 2017 gewonnen hatten, keine Kandidaten aufstellen
werde. So kommt die Brexit-Partei den Konservativen nicht in die Quere.
Johnsons Brexit-Position ist eindeutig
Allerdings ging die Rechnung für Farage nicht auf. Er hatte gehofft, dass sich
die Konservativen im Gegenzug in all den Labour-Wahlkreisen zurückhalten
würden, in denen die Brexit-Partei einen größeren Zulauf hat als die
Konservative Partei. Doch Johnson ließ sich auf diesen Kuhhandel nicht ein.
Beide Parteien werden nun in allen Labour-Wahlkreisen Kandidaten aufstellen.
Dabei geht es vor allem um die Arbeiterstädte im Norden Englands, wo die
Brexit-Anhänger von Labour zu den Tories oder der Brexit-Partei wechseln.
Nigel Farage beschwerte sich am Donnerstag, dass seine Kandidaten massenhaft Anrufe aus dem Lager der Konservativen Partei erhalten hätten. Manchen seiner Kandidaten seien Positionen im Oberhaus angeboten worden oder andere Posten, wenn sie auf ihre Kandidatur verzichten würden. "Das ist undemokratisch, verboten und korrupt", kritisierte Farage. Das kenne man sonst nur von Venezuela oder Afrika. Inzwischen hat die Metropoliton Police bestätigt, dass sie zwei Vorwürfe von Wahlmanipulation untersuche. Der Labour-Abgeordnete und ehemalige Rechtsberater der Regierung, Lord Falconer, hatte Polizeipräsidentin Cressida Dick zum Einschreiten aufgefordert. Farage und die Europa-Abgeordnete der Partei, Anne Widdecombe, berichten von mindestens acht Fällen, in denen ihnen und anderen Kandidaten der Partei von Tories Positionen angeboten worden seien. Es sei auch angedeutet worden, dass es um Posten im House of Lords, dem britischen Oberhaus, gehen könnte.
Boris Johnson hat die Anschuldigungen zurückgewiesen. Derzeit geht
die Rechnung für ihn auf: Die Stimmen der Brexit-Anhänger konzentrieren
sich mehr und mehr auf die Tories. Die Brexit-Partei verliert
Zulauf und wird, wenn es so weiter geht, keinen Abgeordneten in das Unterhaus
schicken können.
Johnsons Regierung unternimmt
derweil alles, damit die von den Konservativen ins Rennen geschickten
Abgeordneten loyale Brexit-Anhänger sind. Rund vierzig Abgeordnete der
Konservativen sind zurückgetreten oder wurden pensioniert, werden also durch
neue Kandidaten ersetzt. Allein durch diese Neubesetzung gibt es innerhalb der
Tory-Fraktion einen Rechtsruck im Parlament. Johnson hat einen sehr großen
Vorteil. Seine Brexit-Position ist eindeutig: "Get Brexit done." Er hat einen
Deal und der soll durchs Parlament. Ende Januar ist Brexit. Das ist leicht zu
verstehen.
Die Positionen der anderen
Parteien sind jedoch unklar: Wollen sie einen weichen Brexit oder gar keinen Brexit,
eine Volksabstimmung oder nicht? Corbyn ist ambivalent wie immer. Zugleich ist
die Labour-Partei weiter nach links gerückt, seit der moderate Stellvertreter
von Corbyn, Tom Watson, das Handtuch geworfen hat. John Curtice meint, dass
die Wahrscheinlichkeit, dass Labour die Mehrheit im Parlament bekomme, "stark
gegen Null tendiert".
"Der interessiert sich doch gar nicht für uns"
Für Johnson ist es ideal,
dass sich die Stimmen der Brexit-Gegner auf fünf Parteien verteilen: auf Labour, die Liberalen, die Grünen, Plaid
Cymru in Wales und die SNP in Schottland. Zwar sprechen sich die Liberalen, die
Grünen und die Wales Partei Plaid Cymru ab. Das macht aber nicht viel aus.
Gefährlicher wäre es für Johnson gewesen, wenn die Labour-Partei und die
Liberalen einen Pakt geschlossen hätten. Aber das ist nicht geschehen. Beide
Parteien treten in allen Wahlkreisen an.
Die Stimmverteilung nach
den jetzigen Wahlprognosen könnte für Johnson daher einen klaren Sieg bedeuten.
Nach der Umfrage von ComRes könnte Johnson eine Mehrheit von 110 Abgeordneten im Unterhaus erreichen. Die Tories
wären mit 380 Abgeordneten (bisher 298) die mit Abstand stärkste Fraktion. Der Sieg ginge
vor allem zu Lasten von Labour, die nur noch mit 194 Abgeordneten vertreten
wären (bisher 243), die Liberalen mit 19 (20) Abgeordneten und die schottische
SNP mit 36 (35).
Wie immer ist fraglich,
welche Aussagekraft eine Wahlprognose wie diese hat. Aber Johnson scheint in der
Arbeiterschicht, bei armen Rentnern und bei Haushalten, die von Sozialhilfe
abhängig sind, deutlich mehr Sympathien zu haben als dies der Konservativen Partei
in diesen Gruppen bisher gelungen war.
Johnson wird mit der Wut der Bürger konfrontiert
Dennoch: Es ist eine
Sache, populistische Reden im Unterhaus zu halten und Videoclips für die
Wahlpropaganda auf die sozialen Medien zu stellen. Viel härter ist der Auftritt
im Land, an den Brennpunkten, wo Johnson mit der Wut der Bürger konfrontiert
wird. Die Ablehnung, die Johnson derzeit in Lincolnshire und Doncaster von
Opfern der Überschwemmungen erlebt, ist ernüchternd.
"Wie kann ich Ihnen denn hier helfen?", fragte Johnson, als er mit Fernsehkameras in dem Katastrophengebiet in South Yorkshire auftauchte. "Gar nicht", war die Antwort eines Mannes, der Johnson sofort den Rücken zuwendete. "Alles etwas spät", sagte eine Frau, die den Premierminister aufklärte, dass die Gemeinden seit sechs Tagen auf Eigeninitiative angewiesen seien. "Ich habe jetzt eigentlich keine Lust mit Ihnen zu reden", sagte eine andere Frau, die sich an Johnson vorbeidrängte.
Die Leiterin des Hilfszentrums, Julia Keegan, hielt ebenfalls nichts von dem hohen Besuch: "Der interessiert sich doch gar nicht für uns. Der kommt doch nur, um sein Gesicht zu zeigen", sagte sie gegenüber dem Fernsehsender ITV.
Die Leute spielen nicht mehr mit, haben den Respekt vor Politikern verloren, ranzen den Premierminister an. "Das Land ist ein Witz. Alle Leute leben in Armut. Leute leben auf der Straße, Kinder leben auf der Straße. Kümmern Sie sich endlich darum", wütet ein Mann, der sich von der Entourage Johnsons nicht beruhigen lässt. Der Premier hatte nach diesen Erlebnissen offenbar erstmal genug von Auftritten unterm Volk – den nächsten Termin sagte Johnson ab.
2019-11-16 09:37:44Z
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