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Landtagswahl in Thüringen: Hier droht das Szenario vom unregierbaren Osten - WELT

Landtagswahl in Thüringen: Hier droht das Szenario vom unregierbaren Osten - WELT

Ein paar Hundert Wähler könnten bei der Thüringer Landtagswahl am Sonntag für einen großen Unterschied sorgen. Vielleicht sitzen sie gerade im Filmpalast Neue Zeit in Nordhausen. Normalerweise werden in dem Kino „Filmklassiker bei Kaffee und Kuchen“ oder „3-D-Blockbuster“ gezeigt. Am Mittwochabend aber geht es um „Liebe zur Freiheit“. Die Veranstaltung ist Teil eines Politthrillers, der am Sonntag um 18 Uhr seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht.

Die FDP hat das Lichtspielhaus gemietet und ihre Prominenz in die nordthüringische Stadt beordert: Parteichef Christian Lindner, Generalsekretärin Linda Teuteberg und Spitzenkandidat Thomas Kemmerich. Immerhin 130 Bürger sind gekommen, um ihnen zuzuhören; keine schlechte Quote für die etwa 42.000-Einwohner-Stadt.

Die FDP braucht in Thüringen dringend einen Erfolg. Nirgendwo in Ostdeutschland sind die Liberalen noch in einem Landesparlament vertreten; in Sachsen und Brandenburg scheiterten sie am 1. September erneut an der Fünf-Prozent-Hürde. In Thüringen sehen die Prognosen momentan etwas besser aus, der Einzug in den Erfurter Landtag könnte knapp gelingen. Lindner, Teuteberg und Kemmerich sind täglich im Freistaat unterwegs.

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„Unsere Freiheit wird uns in Deutschland scheibchenweise genommen!“, ruft der FDP-Chef in Nordhausen in den halb besetzten Saal und mahnt: „Die politische Vernunft liegt in der Mitte.“ Das mag sein, aber etwa die Hälfte der Thüringer Wähler, vielleicht sogar noch mehr, sehen das offenbar anders.

In den Umfragen führt die Linke mit Werten zwischen 28 und 30 Prozent; die AfD wird im Freistaat zwischen 20 und 24 Prozent gehandelt. Für ein „breites bürgerliches Bündnis“, mit dem CDU-Spitzenkandidat Mike Mohring in der nächsten Woche gern die von Bodo Ramelow geführte rot-rot-grüne Landesregierung ablösen möchte, bleibt da wenig bis gar kein Raum. Und es gibt auch kein Vorbild: Denn eine Koalitionsregierung unter Einschluss von CDU, SPD, FDP und Grünen wurde in Deutschland noch nie gebildet.

Will Ministerpräsident von Thüringen werden: Mike Mohring (CDU) beim Wahlkampf
Will Ministerpräsident von Thüringen werden: Mike Mohring (CDU) beim Wahlkampf
Quelle: Getty Images

Um aber überhaupt den Hauch einer Chance auf einen Machtwechsel zu wahren, muss Mohring nicht nur für die Union kämpfen, sondern auch noch beide Daumen für die Liberalen drücken. Denn nur wenn den Liberalen der Einzug ins Landesparlament gelingt, könnte Mohring einen Anspruch auf die Staatskanzlei erheben. Aber auch wenn die FDP es schaffte, wäre eine Mohring-Mehrheit nicht automatisch gesichert.

Ein Dutzend Meinungsumfragen wurde seit April für Thüringen veröffentlicht; die wenigsten ergaben klare Verhältnisse. Bodo Ramelows Beliebtheit wird der Linken am kommenden Sonntag vermutlich einen historischen Erfolg bescheren. Die Mehrheit im Parlament könnten die Koalitionsparteien dennoch verlieren. Denn die Wahlergebnisse für SPD und Grüne werden eher bescheiden ausfallen.

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Die vor 150 Jahren in Thüringen gegründete SPD liegt inzwischen nur noch bei sieben bis neun Prozent. Ihren Wahlkampf haben die Sozialdemokraten komplett auf ihren Spitzenkandidaten Wolfgang Tiefensee zugeschnitten. Der ist nach Ramelow zwar der beliebteste Politiker im Land; seiner Partei nutzt das freilich wenig.

Die Popularität des Wirtschaftsministers und ehemaligen Bürgerrechtlers kann auch im Freistaat die Fantasielosigkeit und die politische Übermüdung der Gesamtpartei nicht überdecken. Da nützt es auch nicht viel, wenn sich sämtliche Kandidatinnen und Kandidaten, die in den vergangenen Monaten um den Parteivorsitz gerangelt haben, am Samstag vor der Wahl noch einmal zum Fototermin auf dem Erfurter Anger versammeln.

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Und für die Grünen ist ein zweistelliges Ergebnis, von dem im Frühjahr noch manche träumten, nicht mehr in Sicht. Zwar spielte die Rettung des Thüringer Waldes im trockenen Sommer eine große Rolle; ebenso groß aber sind die Befürchtungen vieler Bürger, dass genau dieser Thüringer Wald künftig mit Windrädern zugebaut wird.

An die Zukunft des E-Autos glauben auch nicht alle, am wenigsten die vielen Pendler im Westen des Freistaats, die mit ihrem Pkw täglich zur Arbeit nach Hessen fahren müssen. Da nützen auch Bekenntnisse zum Ausbau des Schienenverkehrs nicht viel. Die überwiegende Mehrheit der Thüringer wohnt auf dem Land oder in kleinen Städten; dass dort künftig eine Regionalbahn halten wird, glauben die Bürger erst, wenn sie eine sehen.

Das Szenario vom unregierbaren Osten

Ramelows Partner schwächeln – und die These vom unregierbaren Osten, die in Sachsen und Brandenburg von den sich anbahnenden Kenia-Koalitionen widerlegt wurde, ist im Freistaat wieder da: Thüringen liegt in der Mitte Deutschlands, doch nirgendwo in der Republik sind die politischen Verhältnisse so asymmetrisch, widersprüchlich und unkalkulierbar wie zwischen Eisenach und Gera.

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Als Ramelow im Dezember 2014 zum ersten linken Ministerpräsidenten in Deutschland gewählt wurde, hielten das viele Beobachter für ein Experiment, das schon nach kurzer Zeit explodieren würde. Doch Ramelows Regierung aus Linken, Grünen und Sozialdemokraten erwies sich trotz der knappen Mehrheit im Parlament als ausgesprochen zäh und stabil. Sozialistische Experimente, die manche befürchtet hatten, blieben ebenso aus wie große Skandale. Krisen, die gefährlich hätten werden können, wurden von der Staatskanzlei in der Regel kühl gemanagt.

Als die Landtagsabgeordnete Marion Rosin im April 2017 beispielsweise von der SPD zur CDU-Fraktion wechselte, schrumpfte Ramelows Gefolgschaft im Parlament auf eine Stimme Mehrheit. Und diese eine Stimme kam ausgerechnet von Oskar Helmerich, der 2015 von der AfD zur SPD gewechselt war. Die Stabilität der rot-rot-grünen Regierung verdankt sich in den vergangenen beiden Jahren also einem Überläufer, der seine Genossen zudem regelmäßig zur Weißglut trieb, weil er Thilo Sarrazin mehrfach zu Veranstaltungen eingeladen hat.

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Und so hybride wird es wohl weitergehen, auch wenn Helmerich dem neuen Landtag nicht mehr angehören wird. Denn es ist durchaus denkbar, dass die rot-rot-grüne Koalition am kommenden Sonntag trotz Ramelows großer Popularität und des daraus folgenden Wählerzuspruchs für die Linke ihre Mehrheit im Parlament verlieren wird.

Normalerweise wäre eine Regierung damit abgewählt. Nicht so in Thüringen. Ramelow kann laut Landesverfassung so lange geschäftsführend im Amt bleiben, bis ein anderer Politiker vom Landtag zum neuen Ministerpräsidenten gewählt wird. Dieser „andere“ ist aber nicht in Sicht. Mohring hat eine Kooperation mit der AfD immer wieder kategorisch ausgeschlossen.

„Björn Höcke ist ein Nazi!“, sagte Mohring vor wenigen Tagen der „taz“. Wenn der 47-jährige Christdemokrat aber nicht mithilfe der AfD gegen den 63-jährigen Amtsinhaber Ramelow antreten will, könnte im neuen Parlament auch alles beim Alten bleiben – auch wenn der linke Ministerpräsident seine Mehrheit verliert.

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Genau diese Pattsituation hat Ramelow lange vorausgesehen. Was Strategie und Taktik angeht, macht dem erfahrenen Gewerkschafter im Osten kaum ein Politiker etwas vor. Zu den Vorbereitungen auf den Tag X gehört auch die Verabschiedung eines Landeshaushaltes für das Jahr 2020 im Juni dieses Jahres. Die rot-rot-grüne Mehrheit hat damit einen Haushalt beschlossen, der in der nächsten Legislaturperiode liegt.

Die CDU-Opposition hat dieses Vorgehen als „glatt verfassungsfeindlich“ kritisiert, manche Staatsrechtler pflichteten der Union bei. Ramelow konterte die Vorwürfe mit Hinweisen auf politische Stabilität und Staatsräson und saß die kontroverse Debatte darum einfach aus. Auf eine Klage vor dem Landesverfassungsgericht verzichtete die CDU; ein Urteil wäre erst Jahre später gefallen. Ramelow setzt im Zweifel gern auf die Macht des Faktischen.

Der beschlossene Haushalt 2020 ermöglicht dem linken Regierungschef nun zumindest im kommenden Jahr, als Ministerpräsident nicht nur den geschäftsführenden Grüßaugust zu geben, sondern tatsächlich zu gestalten. Mit einer entscheidenden Einschränkung: Ramelow dürfte keinen neuen Minister berufen, er muss mit dem Personal weiterregieren, das bereits im Amt ist. Wie weit diese Strategie trägt, ist offen. Durch das nächste Jahr dürfte er damit kommen.

„Es ist unser Recht zu entscheiden, wer kommt und wer bleiben darf“

Die FDP steht in den Umfragen vor der Thüringenwahl bei fünf Prozent, könnte also knapp in den Erfurter Landtag einziehen. Parteichef Lindner will das Profil seiner Partei schärfen und beim Thema Zuwanderung klare Kante zeigen. Im WELT-Interview erläutert er, wie das gemeint ist.

Quelle: WELT

Für Mohring sind das alles keine guten Nachrichten. Aber er gibt nicht auf und hat sich Hilfe aus der ganzen Republik geholt: Friedrich Merz, Wolfgang Bosbach, Markus Söder, Julia Klöckner, Annegret Kramp-Karrenbauer und viele andere Christdemokraten werben seit Wochen in Thüringen für den Wechsel.

Am Donnerstagnachmittag hält Mohring eine Wahlkampfrede in Weimar; vis-à-vis dem Goethe-Schiller-Denkmal und dem Nationaltheater, eine ganz große deutsche Kulisse. Am Sonntag würde er gern Thüringer Geschichte schreiben. „Aber wie soll das gehen?“, fragt ihn ein 18-jähriger Schüler, „wie wollen Sie denn in einer Koalition mit vier Parteien regieren?“

Genau darüber macht sich Mohring seit Monaten Gedanken. Sein Mantra lautet: „Klare Verhältnisse in der politischen Mitte.“ Aber klare Verhältnisse bei vier Koalitionsparteien? Dem Erstwähler antwortet er: „Klar geht das.“ Und dann: „Ich habe einen Plan.“ Der Schüler zieht die Augenbrauen hoch. Ob er damit Respekt oder Zweifel ausdrücken will, bleibt unklar. Wie derzeit fast alles in Thüringen.

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2019-10-26 06:19:00Z
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