Es können viele Politiker in Deutschland froh sein, dass bis zum Bundestagswahljahr 2021 Landtagswahlen jetzt nur noch in Thüringen und Hamburg stattfinden. Hans-Georg Maaßen und seine Werte-Union zählen zu denjenigen, die froh sein dürfen. Von den sechs Kandidierenden dieser CDU-Gruppierung, denen Maaßen am Wahltag noch namentlich und ausdrücklich Glück gewünscht hatte, erfüllten nur zwei die Erwartungen. Ein Oderländer und ein Vogtländer konnten den Aufstieg der AfD zumindest verlangsamen – Alexander Gaulands und Jörg Meuthens Partei gewann in diesen beiden Wahlkreisen nur halb so viele Prozentpunkte hinzu wie im jeweiligen Landesdurchschnitt Brandenburgs und Sachsens.
Zwei weitere Vertreter der Werte-Union kamen so schlecht und recht ins Ziel wie die jeweilige Landes-CDU. Die übrigen beiden Kandidaten der Werte-Union mussten bei der Erststimme gegenüber den Landtagswahlen 2014 zweistellige Prozentpunktverluste hinnehmen. Auch die Zweitstimmenverluste der beiden lagen über dem jeweiligen Landesdurchschnitt der CDU. In einem dieser beiden Wahlkreise erzielte die AfD einen der höchsten Stimmenzuwächse ihrer erst kurzen Geschichte.
Die CDU nach rechts drehen, und schon wird alles wieder gut – diese Rechnung ist nicht aufgegangen. Wie sollte sie auch. Der Rechtskurs war ein Schlingerkurs gegen die eigene Parteiführung, und es blieb auch unklar, was denn nun der entscheidende Unterschied zur sprungbereiten AfD war. Die Werte-Union machte denselben Fehler wie der linke SPD-Flügel, der Mitte der 80er-Jahre ganz fix grüner als die Grünen werden wollte und damit bei der Bundestagswahl 1987 nur die Grünen stärkte. Die Bundes-CDU unter Annegret Kramp-Karrenbauer machte den Fehler, diesen Schlingerkurs gegen die eigene Parteiführung durch die harte Kritik an Maaßen unmittelbar vor der Wahl erst richtig ins Bewusstsein der Wähler zu rufen. Wer sich im Streit mit der eigenen Parteiführung kurz vor einer Wahl schnell noch die Maske einer anderen Partei aufsetzt, wird abgestraft – genauso wie derjenige, der diese Maskerade dem Wähler schnell noch unter die Nase reibt und so die Existenz eines innerparteilichen Streits betont. Wer weiß, wie das CDU-Ergebnis ausgefallen wäre, hätte man Maaßen stillschweigend machen lassen.
Zur Führungssicherheit und Stabilität gehört Verlässlichkeit. Michael Kretschmers Ausschluss einer Koalition mit der AfD bot Orientierungssicherheit. Er hat den seit zehn Jahren gültigen Satz Angela Merkels, die CDU koaliere weder mit Links- noch mit Rechtspopulisten, in einer schwierigen Situation durchgehalten. Das war besonders mutig für einen Ministerpräsidenten, der mitten in der Legislaturperiode auf den Sattel musste.
Brandenburgs CDU-Landeschef Ingo Senftleben hat Merkels politisches Prinzip nicht beherzigt. Er spielte öffentlich mit dem Gedanken, notfalls auch Linke oder AfD zum Gespräch zu bitten. Weil er aber kein Regierungschef ist und die brandenburgische CDU kein Rettungsanker in unruhigen Zeiten, bekam Senftleben für seinen Schlingerkurs die Quittung: Minus 7,4 Prozentpunkte gegenüber dem ohnehin mageren Ergebnis von 2014. In absoluten Wählerzahlen ist das Resultat noch dramatischer. Trotz der erheblich gestiegenen Wahlbeteiligung verlor die brandenburgische CDU 29.846 Stimmen gegenüber der Wahl von 2014 und 77.836 gegenüber der Landtagswahl von 2009.
Dietmar Woidkes knapper Sieg in Brandenburg täuscht nicht darüber hinweg, um wie viel dramatischer die Lage der SPD geworden ist. Führungssicherheit, Stabilität in unruhigen Zeiten – wie soll die SPD dies bieten, wenn sie keine Führung hat?
Woidkes „Sieg“ – lausige 2,7 Prozentpunkte gleich 33.811 Stimmen vor der AfD, in einem der beiden deutschen SPD-Stammlande! – ist ein großer Selbstbetrug. Die wahre Lage der Sozialdemokraten wird in Leipzig sichtbar, wo die SPD nur noch in einem von fünf Wahlkreisen knapp vor der AfD liegt und in den anderen vier teilweise weit hinter ihr. Und das in der Stadt, die bei der SPD-Gründung eine so wichtige Rolle spielte.
Oder in Dresden, wo die SPD in allen sechs Wahlkreisen nur noch halb so stark ist wie die AfD, in einem der Wahlkreise ist sogar die FDP der SPD dicht auf den Fersen. Und das in der Stadt Herbert Wehners. Dasselbe Bild ergibt sich in Cottbus.
Oder Chemnitz, nach den Unruhen vom Herbst 2018 nach Auffassung der SPD doch eigentlich ein Leuchtturm des Widerstands gegen die AfD. Das Gegenteil ist eingetreten: Die AfD ist in den drei Chemnitzer Wahlkreisen nahezu dreimal so stark wie die SPD geworden.
Oder auch Görlitz: Dem Gemeinschaftssieg aller Parteien gegen einen AfD-Bürgermeisterkandidaten folgten bei der Landtagswahl Ergebnisse, die für die SPD schlichtweg blamabel sind. In Görlitz-Stadt ist die AfD rund neunmal so stark wie die SPD geworden, die noch ganze 1310 Zweitstimmen erhalten hat. Die Alternative für Deutschland wurde dort stärkste Partei und liegt 961 Stimmen vor der CDU. In einem der Görlitzer Landkreise haben die Sozialdemokraten sage und schreibe dreimal so viele Zweitstimmen wie die Tierschutzpartei erworben.
Wenn das nichts ist. Olaf Scholz, oder wer auch immer die SPD künftig führt, hat beste Chancen – sarkastisch gesprochen. Es gibt nicht mehr viel umzubauen, es muss vielmehr „alles neu gemacht werden“, um Konrad Adenauer über die Nachkriegsjahre zu zitieren. Olaf Scholz‘ Partnerin für den SPD-Vorsitz, Klara Geywitz, hat ihr Direktmandat in Potsdam verloren. Sie gewann gegenüber 2014 zwar für sich 2051 Direktstimmen hinzu, aber ihre Konkurrentin von den Grünen, Marie Schäffer, war weitaus erfolgreicher. Sie holte 6053 zusätzliche Stimmen gegenüber 2014, das sind plus 11,3 Prozentpunkte. Geywitz verlor gegenüber der vorigen Wahl 1,3 Prozentpunkte. Olaf Scholz und seine politische Partnerin symbolisieren die zweite Verliererfront der Sozialdemokraten. Der Absturz in die Bedeutungslosigkeit ist nicht mehr weit entfernt.
Führungssicherheit und Stabilität in unruhigen Zeiten, ein Ministerpräsident als Identifikationsperson, bloß keine Experimente – diese Stimmung macht auch die große Wahlverliererin Linkspartei nun zur Bodo-Ramelow-Partei.
Der Abgang Sahra Wagenknechts hat der Partei eines prägenden Gesichts, eines Teils ihrer politischen Seele und offenkundig auch eines beträchtlichen Teils ihrer Wählerschaft beraubt. Zurück bleibt eine farb- und konturlose Gruppierung mit dem linken einzigen Tausendsassa Ramelow als Galionsfigur – einem Spitzenmann mit Westwurzeln wie Björn Höcke oder Andreas Kalbitz, aber eben mit einem Ministerpräsidentenamt.
Seit 2009 hat die Linke in Brandenburg 241.540 Zweitstimmen verloren, das ist nahezu zwei Drittel ihrer Wählerschaft. In Sachsen verlor sie im selben Zeitraum 145.948 Wähler und ist jetzt nicht mehr wie seinerzeit die Oppositionsführerin mit immerhin halb so vielen Stimmen wie die CDU, sondern nur noch eine der Parteien hinter der AfD. Die Grünen sind nur noch knapp 40.000 Stimmen von der sächsischen Linkspartei entfernt. Thüringen, und damit Bodo Ramelow, entscheidet am 28. Oktober darüber, ob die AfD zur einzigen Ostpartei wird, was immer auch das genau ist.
CDU, SPD und Linke auf Bundesebene mit unklarer oder nicht vorhandener Führungsstruktur (und ja, irgendwo geistert auch noch die FDP herum und sucht ihr Thema) – das ist die Stunde der AfD. Sie hat ebenfalls keine klare Führung, sie streitet sich heftiger als die SPD oder die CDU, aber sie hat eine Botschaft. Die Botschaft ist schillernd und widersprüchlich und weniger ein klares Vorhaben als ein Gefühlsappell. Dieser Gefühlsappell allerdings zeigt Wirkung. Wir sind die Anderen. Wir sind nicht Groko. Die AfD mobilisiert Empfindungen, die Anfang der 80er-Jahre mit der CDU verbunden wurden und Mitte der 90er-Jahre mit der SPD. Union und SPD können von Glück sagen, dass es mit den Grünen noch eine zweite Partei gibt, die den Wunsch verkörpert, vieles möge sich ändern. Sonst wäre es jetzt in Sachsen und Brandenburg zu einer Wende gekommen, die die Bundeskoalition gesprengt hätte. Die AfD operiert auch wie Trump und andere Populisten sehr erfolgreich mit Gerüchten, siehe die Vorgänge um die angebliche Verlegung eines Bundespolizei-Standorts im Wahlkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge 2 von Altenberg nach Dippoldiswalde. Der AfD-Kandidat André Barth hatte der langjährigen CDU-Abgeordneten Andrea Dombois unterstellt, die Verlegung anzustreben, um ihrem Heimatort Dippoldiswalde etwas zuzuschanzen.
Es war nicht der einzige Argumentationspunkt Barths, aber ein wirkungsvoller. Die Polizei dementierte ebenso wie Dombois. Am Sonntag kam es trotzdem zum Foto-Finish. Die CDU-Kandidatin gewann mit ganzen 98 Stimmen Vorsprung. Sollte es der AfD Sachsen gelingen, die Landtagswahl anzufechten, würde sie in diesem Wahlkreis bei einer Neuwahl mit aller Kraft das Blatt endgültig zu wenden versuchen.
Das könnte für die AfD ein harter Ritt werden. Zunächst wird nun Björn Höcke anstreben, in Thüringen das eigentliche Wahlziel der AfD zu erreichen, nämlich stärkste Fraktion zu werden. Ob ihm das gelingt, ist nicht nur wegen seiner Radikalität zweifelhaft. Die Außenpolitik kann ebenfalls eine Rolle spielen. Das Unsicherheitsempfinden mancher Wähler wird von der Weltlage mit dominiert. Den Aufholjagden von CDU und SPD in Sachsen und Brandenburg ging nicht nur der unermüdliche Einsatz der Ministerpräsidenten voraus, sondern auch das Scheitern Sebastian Kurz‘ und Matteo Salvinis. Die Landtagswahl in Thüringen fällt zusammen mit den letzten Stunden des Ringens um den Brexit. Das ist mit Blick auf Führungssicherheit, Stabilität und Verlässlichkeit nicht zu unterschätzen. So unklar das Verhältnis zwischen Angela Merkel und Annegret Kramp-Karrenbauer sein mag, bei einem solchen Thema ist die CDU die Führungskraft.
Eine Neuwahl in Sachsen wiederum würde kaum vor dem Frühjahr stattfinden – und dann besitzt die SPD wieder eine Führung. Es wird entscheidend darauf ankommen, ob die Delegierten des SPD-Parteitags Anfang Dezember die Nerven verlieren oder ihre Nervosität über die Groko in den Griff bekommen. Steigen sie aus der Koalition aus, ist ihr Regierungsruf so ramponiert wie derjenige der FDP. Die Ergebnisse sind zu besichtigen. Die Hamburger Bürgerschaftswahl im Februar stünde unter keinem guten Stern, und die Kommunalwahlen in NRW würden CDU und Grüne unter sich ausmachen, mit der AfD als Gegenspielerin.
Behält die SPD die Nerven – dann, aber wirklich nur dann, könnte 2020 das Jahr werden, in dem die Regierung handelt und die AfD ihr dabei zuschauen muss. Steigt die SPD aus der Regierung aus, bieten Sachsen und Brandenburg ein anschauliches Beispiel dafür, wie der vorzeitig gewählte nächste Bundestag aussehen könnte.
2019-09-02 10:22:00Z
https://www.welt.de/politik/deutschland/article199531948/Landtagswahl-in-Sachsen-und-Brandenburg-Der-grosse-Selbstbetrug.html
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