Wer bei Cem Özdemir vergangene Woche genau hinhörte, der wusste, dass der grüne Bundestagsabgeordnete die Tür noch einen Spaltbreit offen sah. Wenn er am 24. September für den Vorsitz der Bundestagsfraktion und damit gegen Katrin Göring-Eckardt oder Anton Hofreiter kandidieren wolle, müsse er dann nicht unverzüglich seinen Hut in den Ring werfen?
Nun ja, wiegelte der 53-jährige Schwabe ab, theoretisch könne man bis zum Beginn der besagten Fraktionssitzung seinen Finger heben. Am Samstag war der Machtkampf dann doch etwas früher und offiziell eröffnet.
Özdemir hat die noch nicht ganz geschlossene Tür zur Bewerbung um die Fraktionsspitze mit überraschender Entschlossenheit aufgetreten. Im Doppelpack an der Seite der 52-jährigen Bremer Bundestagsabgeordneten Kirsten Kappert-Gonther fordert Özdemir bei den Wahlen in knapp drei Wochen Göring-Eckardt und Hofreiter heraus.
Im Bewerbungsbrief an die Partei zeigten sich „Eure Kirsten und Euer Cem“ davon überzeugt, „dass ein fairer Wettbewerb der Fraktion guttut - nach außen wie nach innen“.
Das mag sein. „KGE“, wie die dem eher konservativen Flügel zugerechnete Thüringer Protestantin in der Partei gekürzelt wird, und der als linker Pragmatiker geltende bajuwarische „Hofreiter Toni“ werden zwar von den Abgeordneten akzeptiert.
Doch Begeisterung über die Ende des Monats vermeintlich bevorstehende alternativlose Wiederwahl war in der Fraktion nicht zu spüren, als sie sich vergangene Woche zur Klausur in Weimar traf.
Während in der Partei durch das Spitzenduo Robert Habeck und Annalena Baerbock durchaus Aufbruch zu spüren und aus Wahlergebnissen abzulesen ist, vermittelt die kleinste Bundestagsfraktion eher nur den Eindruck von Routine. Özdemir, der 1965 auf der Schwäbischen Alb geborene Sohn von Türken, die damals als Gastarbeiter galten, will nun Dynamik in die Reihen der Abgeordneten bringen.
Bis zur Bundestagswahl gehe es darum, „mit neuem Schwung der Gegenpol einer schwachen Regierung zu sein“, schreiben die beiden Herausforderer.
Steil gestartet und vorerst hart gelandet
Der gelernte Erzieher Özdemir war in der vergangenen Bundestagswahl 2017 noch Vorsitzender und Spitzenkandidat seiner Partei, zusammen mit Göring-Eckardt, die er jetzt ablösen will. Für den Fall einer Jamaikakoalition wurde er als möglicher Außenminister gehandelt.
Laut Meinungsumfragen war der in seiner Partei am bürgerlichen Flügel verortete Özdemir vor gut einem Jahr vorübergehend sogar der beliebteste deutsche Politiker, noch vor Angela Merkel. Doch eine starke Position nahm er da schon nicht mehr ein.
An der Parteispitze waren ihm und seiner damaligen Ko-Vorsitzenden Simone Peters im Januar 2018 Robert Habeck und Annalena Baerbock gefolgt. Für Özdemir blieb nur der im Bundestagsgefüge wichtige, aber in der Außenwirksamkeit begrenzt wahrgenommene Vorsitz des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur.
Obwohl der begnadete Rhetoriker in fulminanten Parlamentsreden die AfD ebenso attackierte wie den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, drohte ihm das Vergessenwerden auf dem Elefantenfriedhof steil gestarteter und dann ins Hintertreffen geratener Oppositionspolitiker.
Cem Özdemir hielt Rede des Jahres
Der ehemalige Grünen-Chef erhält die Auszeichnung für einen Debattenbeitrag im Bundestag am 22. Februar 2018. Özdemir rechnet in seiner Rede mit einem von der AfD gestellten Antrag ab, der darauf abzielte, den kurz zuvor freigelassenen Deniz Yücel zu maßregeln.
Quelle: WELT
Derzeit würden ihm ja alle möglichen Positionen anempfohlen, scherzte Özdemir dieser Tage mit Parteifreunden. Er solle doch den Vorsitz bei „seinem“ VfB Stuttgart anstreben, dessen Präsident Wolfgang Dietrich neulich seinen Rücktritt erklärt hatte.
Das wäre, so hätten sie argumentiert, doch ideal für die Grünen im Ländle – der VfB-Fan Özdemir gewissermaßen als grünes Pendant zum CDU-Landtagsabgeordneten Gerhard Mayer-Vorfelder, der den derzeitigen Zweitligisten ein Vierteljahrhundert lang bis ins Millennium führte und danach Präsident des DFB wurde.
Noch häufiger wird Özdemir als Nachfolger seines Parteifreundes Winfried Kretschmann gehandelt, des baden-württembergischen Ministerpräsidenten. Kretschmann, seit 2011 erster grüner Regierungschef eines Bundeslandes, wird wohl Mitte der Woche ankündigen, ob er 2021 nochmals antreten wolle. Allgemein wird mit einer positiven Entscheidung des konservativen Katholiken mit maoistischen Jugendverirrungen gerechnet.
In seiner mutmaßlich letzten Legislaturperiode könnte der 71-jährige Kretschmann versuchen, Özdemir als seinen Nachfolgekandidaten aufzubauen. Wenn Özdemir in dieser Zeit einen interessanteren Posten als den des Verkehrsausschussvorsitzenden im Bundestag bekleidet, kann das nur in beider Interesse liegen – und in dem der Partei außerdem.
Dazu muss Özdemir allerdings zwei profilierte Grüne zur Seite schieben: Hofreiter, den promovierten Biologen, und Göring-Eckardt, die in der späten DDR ein Theologie-Studium wegen Krankheit unter- und wegen der Wende schließlich abgebrochen hat.
Als dieses links-rechte, west-östliche und im Zweifel vor allem pragmatische Duo voriges Jahr als Vorsitzende bestätigt wurde, schien beim „anatolischen Schwaben“ Enttäuschung darüber erkennbar, dass sich keine breite Strömung für seine Kandidatur starkgemacht hatte.
„Dass ich gern Fraktionsvorsitzender geworden wäre, verheimliche ich nicht, aber dafür hatte ich erkennbar keine Mehrheit in meiner Fraktion“, sagte Özdemir im Januar 2018 im WELT-Interview. Er fügte hinzu, er hätte sich „in der Tat vorstellen können, dass andere Kriterien mindestens so entscheidend sind“ wie die Flügelzugehörigkeit, etwa sein Agieren in der Bundestagswahl und bei den (gescheiterten) Jamaika-Sondierungen.
Hofreiter und KGE waren da gerade im Amt bestätigt worden – allerdings mit einem ernüchternden Ergebnis. Er bekam 66,1 Prozent, sie 67,7 Prozent – für eine Kandidatur ohne Gegenkandidaten ist das schwach.
Trittin erklärter Gegner Özdemirs
Wohl deshalb war in den vergangenen Wochen in Fraktionskreisen von einer „Nervosität“ der beiden Vorsitzenden die Rede. Sie war in erster Linie Özdemir zuzuschreiben, der als potenzieller Herausforderer galt, aber sein Pulver bislang trocken gehalten hatte.
Özdemir ist in der Wählerschaft beliebter als in der Fraktion, vor allem auf deren linken Flügel. Jürgen Trittin, der einstige Bundesumweltminister, gilt als erklärter Gegner Özdemirs. Andererseits wissen die Grünen, dass sie sich keinen Gefallen tun, wenn sie einen in der Öffentlichkeit ausgesprochen populären Politiker zu sehr am Rand verstecken.
Der Parteispitze Habeck/Baerbock, die noch im Herbst von den Delegierten im Amt bestätigt werden muss, würde Özdemir zudem nicht gefährlich. Er hat bereits vor geraumer Zeit erklärt, von seiner formal noch bestehenden Spitzenkandidatur zurückzutreten. Und er wie Kappert-Gonther bestätigten auch in ihrem Brief vom Samstag, sie würden eine Spitzenkandidatur nicht anstreben.
Was wohl auch ein Kamikazeunternehmen wäre: Habeck und Baerbock sind in der Partei bislang völlig unumstritten, und ihre Persönlichkeiten gelten als ein wichtiger Grund für den hohen demoskopischen Zuspruch für die Grünen.
Dass die Partei jüngst in Brandenburg und Sachsen nicht die Zahlen und Größenordnungen erreichte, für die es seit 2018 in Bayern, Hessen und bei der Europawahl reichte, kreiden die Grünen nicht oder nur sehr bedingt ihrem Spitzenduo an.
Özdemir wurde als 28-Jähriger 1994 zusammen mit Leyla Onur (SPD) der erste Bundestagsabgeordnete mit türkischen Eltern. 2002 erfuhr seine politische Karriere eine jähe Unterbrechung, nachdem die private Nutzung dienstlich erworbener Bonusmeilen sowie die Annahme eines Kredits des PR-Beraters Moritz Hunzinger bekannt geworden waren.
Sein in jenem Jahr gewonnenes Bundestagsmandat über die Landesliste nahm Özdemir nicht an, sondern kandidierte 2004 für die Europawahl. Er blieb für eine Legislaturperiode, bis 2009, in Brüssel und Straßburg. 2013 gelang ihm die Rückkehr in den Bundestag.
Özdemir gilt vielen Fraktionsmitgliedern als Einzelkämpfer, der eher auf sich als auf ein Team baut. Seine Wahl in der Fraktion ist deshalb alles andere als sicher.
Kompetenz Kappert-Gonthers ist unbestritten
Darum kann es sich für Özdemir als cleverer Schachzug erweisen, nun zusammen mit Kappert-Gonther den Fraktionsvorsitz anzustreben. Die aus Marburg stammende Fachärztin für Psychiatrie war seit 2011 Abgeordnete in der Bremischen Bürgerschaft und wechselte 2017 in den Bundestag.
Kappert-Gonther ist Obfrau ihrer Fraktion im Gesundheitsausschuss und Sprecherin für Drogenpolitik. Ihre fachliche Kompetenz ist unumstritten. Dass sie ambitioniert sei, hatte sich auch schon herumgesprochen. Jetzt greift die Ko-Vorsitzende der Parlamentarischen Linken in der Grünen-Fraktion weit nach oben.
Und während Kappert-Gonther als offiziöse Repräsentantin des linken Flügels gegen Hofreiter antreten wird, muss Özdemir die Klingen kreuzen mit Göring-Eckardt. Die beiden Überraschungskandidaten wollen der Fraktion neuen Schwung allerdings nicht durch ihre Kandidatur vermitteln – sondern durch ihre Wahl.
Für Özdemir könnte das eine Zwischenstation werden. Auf dem Weg nach Stuttgart.
2019-09-08 07:49:00Z
https://www.welt.de/politik/article199875620/Gruene-Warum-Cem-Oezdemir-jetzt-den-Machtkampf-in-der-Fraktion-wagt.html
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