Der Griff zum Handy, den Bildschirm mit einem Blick entsperrt, schon öffnet ein Fingertippen die Welt von Instagram, TikTok & Co. Jetzt: Scrollen, ohne Sinn und Verstand, erst nach wenigen Sekunden der Gedanke: Was mache ich hier eigentlich gerade?
Der App-Entwickler Frederik Riedel gehört zu den Menschen, die solche Szenen nur zu gut kennen. In der ersten Pandemie-Welle Anfang 2020 ging es dann so richtig bei ihm los: Ständig Social Media checken, aber als Automatismus, nicht als bewusste Entscheidung. Ein Automatismus, der Nerven und vor allem auch Zeit kostet: »Ich war viel auf Twitter und Instagram, aber habe mich danach nie gut gefühlt. Eine Stunde lang scrollen, irgendwelche Videos und Story ansehen – und dann wachst du nach einer Stunde auf und denkst: Warum habe ich das jetzt eigentlich gemacht?«
Dann erinnert sich Riedel an einen Tipp, den er in einem Podcast gehört hatte: Einmal tief durchatmen, bevor man eine Social-Media-App benutzen möchte und sich fragen: Will ich das gerade wirklich? »Der Tipp ist gut, aber funktioniert nur eben nicht, weil man ja oft erst viel zu spät merkt, was man da gerade unbewusst macht«, resümiert Riedel im Telefoninterview mit dem SPIEGEL.
Für den App-Entwickler, der seit seinem 15. Lebensjahr programmiert und ein Stipendium von Apple erhielt, lag die Lösung für sein Problem wortwörtlich auf der Hand: Er machte sich daran, selbst eine App zu programmieren – eine, die ihn zwingt, sich Zeit zum Durchatmen zu nehmen, bevor sie die Welt von Social Media freigibt. Die Idee von »One Sec« war geboren.
»One Sec« verzögert das Öffnen von Social Media um einen langen Atemzug und zählt mit, wie häufig der Nutzer schon zum Handy gegriffen hat
Foto: Frederik Riedel»Gegen den Algorithmus«
Das Konzept von Riedels App ist simpel: In der kostenlosen Grundversion können Nutzer eine Social-Media-Anwendung mit »One Sec« verknüpfen, in der kostenpflichtigen Pro-Version dürfen es auch noch mehr sein. Soll dann die ausgewählte App geöffnet werden, zeigt das Handy stattdessen einen tiefblauen Balken an, der den Smartphone-Bildschirm in einer pulsierenden Bewegung erst überdeckt, dann wieder freigibt – eine Visualisierung des kurzen, tiefen Durchatmens, zu dem Nutzer angehalten werden sollen.
Die beiden offensichtlichen Nachteile von »One Sec«: Bislang gibt es die App nur für iOS, eine Android-Version ist aber in Arbeit. Und mit knapp fünf Euro im Monat ist die Pro-Version recht teuer.
»One Sec« kann Smartphone-Nutzer gegen einen in den Augen des Entwicklers übermächtigen Feind besser rüsten: das subversive Design moderner Social-Media-Apps, das Menschen süchtig machen soll. »Handys sind inzwischen so schnell, Apps öffnen sich fast sofort und schon starten die ersten Videos. Auf der einen Seite stehen die besten Psychologen vom Silicon Valley und auf der Gegenseite der Nutzer, der eigentlich keine Chance mehr hat, nicht in deren Fänge zu laufen.« Es sei laut Riedel »wirklich pervers, welche Mechanismen die da anwenden, um mich dazu zu bringen, möglichst viel Screentime in deren Apps zu verbringen, damit sie möglichst viel Werbung verkaufen können.«
»Der Mensch will Positives erleben.«
Prof. Dr. Julia Bailovskaia sieht das ähnlich. Die Dozentin an der Fakultät für Psychologie der Ruhr-Universität Bochum forscht seit Jahren zu sozialen Netzwerken und wie ihre digitale Nutzung die menschliche Psyche beeinflussen kann. Sie weist im Telefoninterview mit dem SPIEGEL auf die Wirkweise bestimmter Apps hin, die Nutzer durchaus in eine Suchtspirale zwingen kann: »Wir erleben viele positive Emotionen, wenn wir soziale Medien nutzen, zum Beispiel Bilder posten und dann Likes bekommen. Diese sozialen Verstärker tragen dazu bei, dass wir diese Apps immer mehr nutzen, weil wir durch sie positive Emotionen empfinden und gleichzeitig negativen Emotionen in der Realität entfliehen können.«
Und genau das sei der direkte Weg in ein suchtähnliches Verhalten, die Nutzung der App gerät zum Automatismus: »Wir entwickeln eine sehr starke emotionale Bindung an soziale Plattformen und diese ist mit einem pathologischen Zwang verbunden, immer weiter online zu bleiben, nichts zu verpassen.«
Auf Basis dieser Forschungsergebnisse plädiert Prof. Dr. Bailovskaia dafür, dass Nutzer ihr Verhalten reflektieren und sich selbst Grenzen setzen. Das könne auf ganz unterschiedlichen Wegen passieren: Freunde bitten, beim gemeinsamen Treffen etwas zu sagen, wenn man schon wieder zum Handy greifen will. Das Smartphone tagsüber zumindest eine halbe Stunde lang in den Flugmodus versetzen. Ein Tagebuch führen, um die Nutzungszeit zu dokumentieren oder regelmäßig die Bildschirmzeit prüfen, die Android- wie auch Apple-Geräte mittlerweile aufzeichnen und anschaulich präsentieren. Oder eine App wie »One Sec« zur Hilfe dazuziehen, was die Forscherin für eine sinnvolle Alternative hält: »Das Prinzip empfinde ich als sehr hilfreich.«
Während sie die Aufforderung der App, erst einmal durchzuatmen, als sinnvolles Konzept ansieht, wünscht sie sich gleichzeitig mehr Kontext für die Nutzer dieser Programme: »Man könnte durchaus noch mehr Informationen anbieten, die darauf hinweisen, was die Social-Media-Nutzung mit einem macht und damit die Menschen auch auf kognitiver Ebene sensibilisieren.«
Immerhin: Riedels App zeigt während des Durchatmens an, wie häufig der Nutzer schon versucht hat, die jeweilige Social-Media-Anwendung zu öffnen. Dieses Mitzählen könnte bereits ausreichen, um Menschen zum Nachdenken zu bringen und ihr Nutzungsverhalten zu ändern.
Außerdem fragt »One Sec« nach den Gründen eines Nutzers, eine App zu öffnen – nicht, um ihn zu überwachen, sondern um ihm dabei zu helfen, das eigene Nutzungsverhalten zu reflektieren
Foto: Frederik RiedelLaut Reviews in Apples App Store scheint das Konzept »One Sec« in jedem Fall seine Fans gefunden zu haben: Mehr als 400 Bewertungen, durchschnittlich 4,8 Sterne, Reviews mit Titeln wie »So nervig, aber im besten Sinne«. Und es gibt viele weitere, ähnliche Apps, die das gleiche Ziel wie »One Sec« verfolgen: »Freedom« blockiert den Zugriff auf alle Anwendungen, die der Nutzer auf die Blockliste setzt und bietet außerdem einen »Lockdown«-Modus an, der es für eine festgelegte Zeit unmöglich macht, diese Blocklisten zu editieren. Kostenpunkt: Rund sieben Euro pro Monat. Noch einmal fünf Euro teurer ist die App »Rescue Time«, die es Nutzern erlaubt, unterschiedliche Apps als »ablenkend«, »sehr ablenkend« oder »produktiv« zu kennzeichnen. Mithilfe dieser Vorgaben ermahnt »Rescue Time« dann seine Nutzer, wenn sie während einer Produktivphase eben doch einmal gedankenlos im Internet herumsurfen. Ein Großteil der übrigen und gut bewerteten Apps bewegen sich im gleichen Preissegment von fünf bis 15 Euro.
Aber auch, wer auf Kontroll-Apps wie diese verzichten und nur ungern Freunde als Aufsichtspersonen abstellen will, kann sich laut Prof. Dr. Julia Bailovskaia auf eine andere Weise helfen: Mit Sport – und sei es nur ein langsamer Spaziergang um den Block: »Wir wissen, dass körperliche Aktivität positive Emotionen verstärkt und negative reduziert. Im Grunde ist das ein vergleichbarer Effekt wie bei der Nutzung von Social Media – aber natürlich viel gesünder.«
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