Langsam fährt die Kamera in »Zustand und Gelände« alltägliche Szenen aus dem Sachsen der Gegenwart ab. Marktplätze, geschlossene Biergärten, Kreuzungen, Kinder auf einer Parkbank. Dazu lässt Filmemacherin Ute Adamczewski aus Briefen, Tagebucheinträgen und offiziellen Schriftsätzen vorlesen, die Bezug zu den gezeigten Orten haben.
Es ist eine scheinbar simple Ton-Bild-Montage, die Adamczewski, studierte Architektin und aktive Videokünstlerin, in ihrem Langfilmdebüt verfolgt. Doch die Montage nimmt schnell eine Komplexität an, wie man sie von hochtechnisierten Augmented-Reality-Angeboten kennt: Wirklichkeitsebenen schichten sich übereinander, man sieht Gegenwart und hört Vergangenheit und ist gefordert, beides im Kopf immer wieder neu zusammenzusetzen. Aber wie sollte historische Erkenntnis auch anders entstehen?
Die von Adamczewski verwendeten Texte legen nämlich frei, wie umstandslos das nationalsozialistische Regime an den gezeigten Orten Fuß fassen konnte. Innerhalb weniger Wochen nach den Reichstagswahlen von 1933 entstanden landesweit sogenannte wilde Konzentrationslager, oft spontan und provisorisch an Orten wie Vereinsheimen geschaffen. Sie wurden genutzt, um Gegner des NS ohne offizielle Gerichtsurteile im Rahmen einer »Schutzhaft« wegzusperren. Ihre genaue Zahl ist wegen der zunächst nicht zentral koordinierten Einrichtung schwer zu beziffern, die Stiftung sächsische Gedenkstätten (STGS) geht von reichsweit 60 bis 100 Konzentrationslagern und über 30 »Schutzhaftabteilungen« in Justiz- und Polizeigefängnissen aus.
Mit dem Daunenkissen gegen die Schreie
In Sachsen hat es über 20 dieser auch »freien« genannten Lager gegeben, was sich dadurch erklärt, dass das Land eine der Hochburgen der Arbeiterbewegung war und diese wiederum eines der frühen Opfer der Naziverfolgung darstellte. Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass Adamczewski hier auf besonders viel Material gestoßen ist.
Ausgehend von einem zufälligen Fund im Stadtarchiv Frankenberg hat sie Dokumente zusammengetragen, die eindrucksvoll belegen, wie Terror von Anfang an zum Nazi-Regime dazu gehörte und in Form der Lager innerhalb kürzester Zeit zu deutschem Alltag wurde. 80.000 Inhaftierte hat die STGS allein fürs Jahr 1933 gezählt. Tod durch Folter oder Vernachlässigung waren verbreitet. Auch für Zwangsarbeit wurden »Schutzhäftlinge« eingesetzt. Sie bauten unter anderem Straßen, die »Zustand und Gelände« nun abfährt.
Der Film, 2019 bereits bei DOK.Leipzig mit dem Hauptpreis geehrt und nun endlich in den Kinos, zeigt aber nicht nur, wie der Zugriff der Nazis auf Gegner von oben erfolgte, sondern wie die Lager nahtlos in die lokalen Wirtschaften und Gemeinschaften integriert wurden. Bewerbungen für die Leitungen von Lagern sind zu hören, dazu Schreiben von Lieferanten, die um Aufträge buhlen. An anderer Stelle werden die Beschwerden von Anwohnern, denen die Schmerzensschreie der Inhaftierten zu laut wurden, protokolliert, und es wird nach Lösungen gesucht. Ein gestiftetes Daunenkissen, das den Opfern während der Folter ins Gesicht gedrückt wird, sorgt schließlich für Abhilfe.
»Zustand und Gelände«
Deutschland 2019
Buch, Schnitt, Regie und Produktion: Ute Adamczewski
Kamera: Stefan Neuberger
Verleih: Grandfilm
Länge: 118 Minuten
Start: 24. Juni 2021
In einem Wirtshaus, in dem Vernehmungen durchgeführt wurden, wurde vorab ein Schild aufgestellt: »Für Stottern 5 Schläge, wer die Unwahrheit sagt 10 Schläge, für Schweigen 15 Schläge, für Gedanken auffrischen 20 Schläge.« Aus so einem durch und durch brutalisierten Alltag heraus erscheint die Errichtung von Vernichtungslagern fast zwangsläufig.
Aber auch Zeugnisse von Widerstand sind in »Zustand und Gelände« versammelt. Der Bericht einer NSDAP-Ortsgruppe zitiert Äußerungen, die drei »Kommunisten« bei ihrer Verhaftung im Mai 1933 getätigt hätten: Jetzt, so einer der Verhafteten, würde wohl jeder kleine Seitenweg bald »Hitlerweg« genannt werden. Nein, »Mordweg«, soll ein anderer entgegnet haben.
Welche Gedenkpolitik reicht jemals aus?
Welche Spuren haben die Ereignisse hinterlassen, an Orten, in Gemeinschaften? Sieht man die Grausamkeiten der Vergangenheit in den Bildern von heute? Kameramann Stefan Neuberger, dessen Arbeit an Thomas Heises »Heimat ist ein Raum aus Zeit« schon spektakulär feinnervig war, filmt oft durch Fenster und Vorhänge durch. Sein Anspruch ist nicht, ein klares, eindeutiges Bild zu liefern, sondern die Gemachtheit und Geführtheit auch eines kritischen Blicks zu kennzeichnen.
Immer wieder bleibt dieser bei Denkmälern und Gedenkplaketten hängen. An dem Haus, in dem das Daunenkissen gegen die Schmerzensschreie zum Einsatz kam, steht der einfache Satz: »In diesem Haus wurden 1933 von SS und SA Gegner des Naziregimes gefoltert und in den Tod getrieben.« Reicht das? Was ist sinnvolle Gedenkpolitik? Und wie ändert sich diese, wenn sie gleich mehrere Regimewechsel durchläuft?
Am Ende von »Zustand und Gelände« haben sich Ton und Bild verkehrt, was Vergangenheit war, ist in der Gegenwart angekommen. Und was aus der Gegenwart stammt, ragt in die Geschichte zurück. Wie sollte historische Erkenntnis auch anders entstehen.
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