Der kurzlebige und dann verpuffte Martin-Schulz-Effekt vom Februar 2017 — ein neuer Besen kehrt vielleicht gut — hat drei Jahre später in Hamburg mal funktioniert, zugunsten der Grünen. Ebenso funktioniert hat der AKK-Effekt bei der Landtagswahl im Saarland vom März 2017, diesmal zugunsten der SPD: Einige Wähler wollen das in ihren Augen größere Übel verhindern, indem sie das kleinere wählen.
Im Februar 2017 hofften etliche Wähler, mit dem neuen SPD-Chef Schulz gebe es den neuen Besen und endlich zu Merkel eine reale Alternative. Die SPD sprang bundesweit um zehn Prozent nach oben, so viel wie die Hamburger Grünen von Mitte 2018 bis Anfang 2019. Im Unterschied zu Schulz blieben die Grünen oben. Anfang Januar 2020 lagen sie in einer Infratest/dimap-Erhebung mit der SPD gleichauf bei 29 Prozent. Der Grünen-Hype alarmierte Menschen, die sonst vielleicht für die CDU oder FDP gestimmt oder sogar Nichtwähler geblieben wären – so wie an der Saar vor drei Jahren.
Im März 2017 entschlossen sich dort konservative CDU-Anhänger, unter dem Eindruck des Schulz-Hypes nun doch Annegret Kramp-Karrenbauer zu wählen. Kramp-Karrenbauer galt solchen Konservativen zwar als furchtbare, weil linke Christdemokratin. Aber Anfang März lag die CDU in einer Forsa-Umfrage bei nur 34 Prozent, und Rot-Rot-Grün hatte eine Mehrheit. Die aufgeschreckten Konservativen gingen ans Werk. AKK, die wie Tschentscher erst in der Mitte der Legislaturperiode Regierungschefin geworden war, siegte zur Verblüffung der Republik mit 40,7 Prozent der Stimmen.
Der CDU-Sieg an der Saar war 2017 der Auftakt für einen zu Unrecht fast vergessenen Siegeszug der CDU, der die SPD demoralisiert zurückließ. Ist Hamburg nun der Auftakt für einen Siegeszug der SPD, der die Unionsparteien demoralisiert zurücklässt?
Norbert Walter-Borjans wollte das am Wahlabend natürlich so verstanden wissen. Sein Optimismus ist zu Teilen sogar begründet, aber nur dann, wenn die SPD entschlossen Konsequenzen aus manchen Aspekten der Hamburg-Wahl zieht – Aspekte, die im Jubel der Geretteten Genossen e.V., so möchte man die SPD titulieren, unterzugehen drohen.
Die AfD hat nicht wirklich verloren
Punkt eins: Die AfD hat nicht verloren, sie ist in absoluten Wählerzahlen stabil geblieben. In Prozentpunkten abgesunken ist sie wegen der gestiegenen Wahlbeteiligung. Da ist zum Beispiel der Wahlkreis Bergedorf im Osten. Er besteht aus einer de facto eigenständigen Kleinstadt mit einem Villenviertel, mit Industrie, mit großen Sozialsiedlungen und einer sehr traditionsreichen Landwirtschaftsregion, den Vierlanden.
Diese Vierlande wurden entlang der S-Bahn mit Wohnraum zugebaut, und dorthin zogen sehr viele Migranten. Zu manchen Tageszeiten ist die S-Bahn-Fahrt vom Hauptbahnhof nach Bergedorf der Beweis dafür. Die AfD legte im Wahlkreis Bergedorf gegenüber der Bürgerschaftswahl 2015 von rund 17.000 auf rund 20.000 Stimmen der Landesliste zu – nach Hanau.
Punkt zwei: Der Wahlsieg der Sozialdemokraten beruht zu einem erheblichen Teil auf Leihstimmen, die nicht zwingend von Dauer sind, während Grüne und Linkspartei stetig Wähler gewinnen. Die Grünen verdoppelten im Wahlkreis Bergedorf die Landeslisten-Stimmenzahl von 19.000 auf 43.000, die Linke nahm dort von rund 15.500 auf 18.500 Wähler zu – die SPD hingegen verlor welche. Sie sank von fast 115.000 auf 107.000 Stimmen. Das ist nicht viel? Bergedorf war der langjährige Bundestagswahlkreis Helmut Schmidts.
Die CDU wurde in Langenhorn von der EX-DKP deklassiert
Wie sieht es in Helmut Schmidts ehemaliger unmittelbarer Nachbarschaft aus, in Langenhorn, Wahllokal Neubergerweg, rund 700 Meter Luftlinie zu Schmidts Bungalow? Das ist optisch und soziokulturell eine Gegend, die irgendwo in Deutschland liegen könnte. Die SPD sinkt von 1280 auf 1021 Stimmen, in Prozenten: von 55,4 auf 42 Prozent. Die Grünen steigen von 170 auf 529 Stimmen, in Prozenten: von 7,4 auf 21,8 Prozent. Die Linke wächst von 153 auf 219 Stimmen – neun statt 6,6 Prozent. Wer liegt am Neubergerweg jetzt 40 Stimmen hinter der Linkspartei, statt wie noch vor vier Jahren satte 162 Stimmen vor ihr zu liegen? Die CDU. Ganze 7,4 Prozent sind ihr geblieben. Die Partei der deutschen Einheit, klar deklassiert von der einstigen DKP.
Sind das alles Ausrutscher? Keineswegs. Altona ist auch ein interessantes Beispiel. In diesem Mischgebiet aus Industrie, Beamtenwohnungen, ökologischen Szenevierteln, linksradikalem Ambiente, Immobilienhype und Eckkneipen-Solidität sind die Grünen jetzt die große Volkspartei. Fast 117.000 Listenvoten, die einzige Partei des Wahlkreises oberhalb der 100.000-Marke, 34,6 Prozent der Stimmen – während die SPD bei 92.000 Stimmen angekommen ist, 27,4 Prozent, fast zehn Prozentpunkte weniger als 2015. Das ist doch immer noch ganz ordentlich?
In Altona ist die Linkspartei im Rücken der Sozialdemokraten aufgetaucht, 61.000 statt 49.000 Stimmen, prozentual sich der 20-Prozent-Marke nähernd. Die Linkspartei, die früher, und so lange ist „früher“ noch gar nicht her, in Hamburg eine belächelte Sekte war!
Altona ist der Bundestagswahlkreis von Olaf Scholz – zwar in anderem Zuschnitt als bei einer Bürgerschaftswahl, die reichen Elbvororte gehören dann dazu, aber der Stadtteil Altona eben auch. In den Elbvororten hat die AfD ebenso wie die SPD leicht verloren, die Grünen hingegen haben ihren Stimmenanteil gegenüber 2015 mehr als verdoppelt.
Bei den Jungen sind die Grünen stärkste Partei
Genug der Zahlen. Oder vielleicht noch dies: Bei den Wählern zwischen 16 und 34 Jahren sind die Grünen mit Abstand stärkste Partei geworden, bei Wählern bis 44 Jahren liegen sie mit der SPD gleichauf. Die SPD dominierte bei Rentnern. Und Angela Merkels CDU? Sie bekam sechs Prozent bei Erstwählern, acht Prozent bei Wählern unter 34 Jahren, zehn bei solchen unter 44.
Die gesamte Generation Merkel, die halbe Generation Kohl zeigt den Christdemokraten an der Alster die kalte Schulter – einer CDU, die vor 16 Jahren Hamburg allein regierte, die dann Schwarz-Grün als deutsches Pilotprojekt startete und Merkels große Hoffnung auf eine Zukunft als Großstadtpartei war.
Peter Tschentschers SPD bekam Leihstimmen und mobilisierte Nichtwähler, weil sie handelt statt redet, und sie redet sogar mit Bankern. Das hätte sie kräftig Stimmen kosten können, wie die Umfragen bis Januar zeigten. Gerettet wurde sie auch deshalb, weil die neue SPD-Bundesspitze den Sozialdemokraten ein schärferes linkes Profil gab (ein Profil, das so manche SPD-Anhänger eben sehr vermissten) und deshalb die Abwanderung zur Linkspartei und den Grünen noch in Grenzen hielt.
Welche Dimension hätte die Debatte um Cum-Ex-Geschäfte und SPD-Spenden einer Hamburger Bank bekommen, wenn Olaf Scholz SPD-Bundesvorsitzender gewesen wäre? Gerettet und für Wechselwähler akzeptabel wurde Tschentschers Partei zudem auch deshalb, weil die neue SPD-Spitze im Bund Disziplin zeigte.
Die SPD-Spitze hielt sich hilfreich zurück
Zwar waren sich in Hamburg nur 23 Prozent der Wähler und 32 Prozent der SPD-Anhänger sicher, wofür die SPD auf Bundesebene eigentlich steht, fand Infratest/Dimap für die ARD heraus. Es gab aus der Parteizentrale auch manche linke Seltsamkeiten, meist auf Twitter. Aber es gab sie eben nicht in der früher gewohnten Lärmigkeit und Aggressivität. Die Lust, übereinander herzufallen, war verschwunden. Aus Berlin kam, gemessen an den Vorjahren, hauptsächlich dieses: eine fast erstaunliche Stille.
Walter-Borjans und Esken haben stattdessen mitgeholfen, die Grundrente CDU-konform beschließen zu lassen. Sie haben darauf verzichtet, Trumps Auftritt in Davos, Ursula von der Leyens Probleme mit McKinsey-Beratern oder das Chaos in Thüringen allzu demonstrativ zum Thema zu machen und so Zweifel daran zu schüren, ob die Groko halte. Das taten andere ja schon genug. Norbert Walter-Borjans hat in diesem Sinne Recht, als er am Wahlabend sagte, die Hamburger hätten in den letzten Wochen erfahren, was es heißt, wenn die Bundespartei „einen klaren Kompass hat“. Hätten er und Saskia Esken seit Dezember die Groko permanent infrage gestellt, wäre Tschentscher womöglich dort geblieben, wo er vor acht Wochen noch stand — bei unter 30 Prozent.
Ein Segen ist das Resultat für die Sozialdemokraten trotzdem nicht. Der CDU-Spitzenkandidat in Hamburg, Marcus Weinberg, war ein Zählkandidat, kein ebenbürtiger Gegner. Ole von Beust warb zum Schluss für die Grünen. Die CDU hat wieder das Stigma des Villen-Hinterzimmer-Vereins, der Parteipöstchen verteilt und ein auskömmliches Dasein mit der übermächtigen hanseatischen SPD sucht. Das Image einer politisch erschöpften Funktionärspartei auf Anbiederungskurs mag eine Hansestadt nicht, die gegen „Berlin“, ob preußisch, kaiserlich oder republikanisch, immer einen Weltstolz mobilisiert und in den eigenen Straßen keine halben Sachen will. Da waren die ambitionierten Grünen schon hanseatischer.
Gutmenschentum ist populärer als Giftmenschentum
Die Grünen hatten aber in Hamburg keine Koalitionsalternative, und sie zeigten das Quantum überbordender Fridays-for-Future-Selbstgewissheit, mit dem sie den Argwohn der Tschentscher-Wechselwähler weckten. Wer weiß schon, wohin ihr Messianismus die Grünen führt, wenn sie mit solcher Haltung auch noch Sieger würden? Das Gutmenschentum der Grünen war unvergleichlich viel populärer als das Giftmenschentum der AfD, aber die Sorge etlicher Hamburger, die Grünen könnten die gute Konjunktur durch allzu heftige Klimabeschlüsse abwürgen, war mindestens genauso groß. Zu sehr Greta zu sein birgt Gefahren.
Die Helmut-Schmidt-SPD aber ist Geschichte, und die Peter-Tschentscher-SPD ist genauso gefährdet wie die neue, noch namenlose CDU. Angela Merkels Partei droht nach der Thüringer Ministerpräsidentenwahl übernächste Woche der offene Richtungsstreit. Gewinnt Markus Söder in drei Wochen die bayerische Kommunalwahl, wird die Kanzlerkandidatenfrage womöglich in München statt in Berlin oder Nordrhein-Westfalen entschieden. Verliert Söder die Kommunalwahl, wächst das Chaospotenzial in der Union, und Hamburg war dann nur der Anfang einer neuen, ziemlich grünen Zeit.
2020-02-24 07:25:00Z
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