
Während die Welt gebannt auf das Coronavirus blickt, steuert der Krieg in Syrien auf eine weitere Tragödie zu. In den neun Jahren Krieg waren in Syrien zu keinem Zeitpunkt mehr Menschen auf der Flucht als heute. Allein seit Dezember wurde eine Million Zivilisten zu Flüchtlingen, allein im Lager Atmeh finden vorübergehend zwei Millionen Menschen Schutz. Eingeklemmt zwischen türkischen Grenzbefestigungen und der herannahenden Armee des syrischen Regimes, fürchten sie um ihr Leben. Denn die hinterließ in der einstigen Rebellenhochburg seit dem Beginn der jüngsten Offensive vor drei Monaten bislang nur verbrannte Erde.
Nur noch 20 Kilometer trennen die syrischen Einheiten von der Zeltstadt Atmeh. Da die Türkei aber eine neue massive Flüchtlingswelle verhindern will, hält sie ihre Grenzen geschlossen und rüstet sich für einen konventionellen Krieg mit Assads Armee. Ziel der Türkei ist es, sie hinter die Beobachtungsposten zurückzudrängen, die Russland vor zwei Jahren Ankara zugestanden hat und die der Bevölkerung von Idlib Schutz versprechen sollten. Zahlreiche türkische Soldaten wurden bereits getötet. Die türkische Armee ist der syrischen zwar überlegen. Sollte Russland mit seiner Lufthoheit über Syrien aber eingreifen und würden türkische Städte bombardiert, drohte ein Flächenbrand.
Europa destabilisieren und die Türkei gefügig machen
Der Schlüssel, beide Katastrophen, die für die Zivilisten wie die militärische, abzuwenden, liegt in Moskau. Allein der russische Präsident Wladimir Putin kann den syrischen Machthaber Assad daran hindern, seinen Vernichtungsfeldzug fortzusetzen. Vierzehn EU-Außenminister appellierten daher diese Woche nicht allein an Assad, die Kampfhandlungen in Idlib unverzüglich einzustellen, sondern auch an Putin. Ansonsten drohe ein „Blutbad“, fürchten die Vereinten Nationen.
Russische Kampfflugzeuge greifen jedoch weiter an, und Anzeichen eines russischen Einlenkens sind nicht zu erkennen. Im Gegenteil: Putin lässt den türkischen Präsidenten Erdogan und noch mehr die Europäer zappeln. Erdogan wollte neben Putin auch Bundeskanzlerin Merkel und den französischen Präsidenten Macron zu einem Gipfeltreffen nach Istanbul einladen. Putin ließ aber erklären, er sei lediglich zu Treffen im Astana-Format bereit, also mit Erdogan und dem iranischen Präsidenten Rohani. Das verheißt nichts Gutes, weil sich erstmals proiranische Milizen an dem Vormarsch in Idlib beteiligen.
Zu hoffen ist, dass Putin, dessen Feldzug gegen Tschetschenien und der Kampf um Grosnyj vor zwanzig Jahren das Vorbild für Assads Feldzug in Idlib sein könnten, Assad noch bremsen kann. Was aber bezweckt Putin mit seinem zynischen Verhalten? Er hat Syrien bereits so eng an sich gebunden, dass es ohne die Hilfe des Kremls nicht lebensfähig ist. Erreicht hat er auch, dass die Vereinigten Staaten in Syrien kein Akteur mehr sein wollen. Somit bleiben zwei Ziele: Europa zu destabilisieren und die Türkei gefügig zu machen – auch ihnen also zu demonstrieren, wer der Herr des Verfahrens ist. Dazu hält Putin in Syrien und speziell in Idlib einen wirkungsvollen Hebel in der Hand. Denn wenn es der Herrscher im Kreml nur will, kann er die Türkei und Europa mit Millionen Flüchtlingen konfrontieren.
Ein Ziel Putins könnte sein, Europa zu zwingen, den Wiederaufbau Syriens zu finanzieren, ohne dass das Regime in Damaskus dazu politische Konzessionen machen müsste. Russland hatte schon vor langem ein Programm für den Wiederaufbau vorgelegt. Europa lehnte es ab, weil es nicht den Fortbestand des Regimes in Damaskus finanzieren will. Ein Syrien mit freien Wahlen, ohne Foltergefängnisse und einer Teilhabe aller wollen aber weder Assad noch Putin. Europa könnte nun jedoch vor die Wahl gestellt sein, den Wiederaufbau zu bezahlen oder aber einen Flüchtlingsstrom zu riskieren.
Die Türkei entdeckt als Folge des Kampfs um Idlib wieder die Vorteile der Nato. Der Sprecher der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP, Ömer Celik, forderte inzwischen, die Allianz müsse an der Seite Ankaras stehen. Je mehr Erdogan im vergangenen Jahr dem russischen Werben erlag, desto mehr zeigte er dem transatlantischen Bündnis die kalte Schulter. Langsam aber erwacht die türkische Führung aus ihrem Traum einer strategischen Partnerschaft mit Russland. Idlib ist eine schmerzhafte Lektion. Am Verhalten Russlands dort zeigen sich die Gefahren für den Fall, dass die Türkei ihre Westbindung zugunsten einer eurasischen Orientierung aufgeben sollte. Putin hat die Türkei in der Hand: Entweder sie pariert – oder Russland löst eine neue Flüchtlingskrise aus und lässt in Nordsyrien eine kurdische Selbstverwaltung zu. Ungewiss ist, ob es Erdogan gelingt, ohne großen Schaden den russischen Erpressungsversuch zu parieren. Zudem war er es ja, der dem Verhältnis zum Westen mit dem Kauf des russischen Luftabwehrsystems S-400 einen fast irreparablen Schaden zugefügt hat.
Eine Lektion des brutalen Vorgehens des Regimes in Idlib ist auch, dass es für Syrien wenig Hoffnung gibt. Selbst wenn einmal die Waffen schweigen sollten, wird es ein Staat sein, der den Keim neuer Aufstände in sich trägt.
2020-02-28 08:05:00Z
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