Wer den alleinigen Schuldigen des Brexit-Debakels in Boris Johnson sucht, macht es sich zu einfach. Die gesamte politische Kaste Großbritanniens hat sich in den vergangenen drei Jahren desavouiert. Jüngstes Beispiel: Die Opposition will an diesem Dienstag mit ein paar gemäßigten Tories ein Gesetz beschließen, das einen ungeregelten Austritt aus der EU verhindert. Aber was ist die mehrheitsfähige Alternative zu einem No Deal? Es gibt keine. Der von Theresa May ausgehandelte Kompromiss mit der EU ist tot, eine Rücknahme des Backstops, wie ihn Boris Johnson fordert, ausgeschlossen. Großbritannien steht mehr als drei Jahre nach dem Referendum immer noch ohne Strategie, ohne Lösung da.
Und in dieser Situation sieht Johnson für sich nur eine Alternative: die Brechstange. Er schickt das Parlament in Zwangsurlaub und droht damit, ein vom Unterhaus vielleicht noch beschlossenes Gesetz zur Fristverlängerung im Zweifel zu ignorieren. Und hilft das alles nichts, will er die Neuwahl ausrufen.
Sein Ziel ist ein Brexit zum 31. Oktober, komme, was da wolle. Die Schäden, die er an der britischen Demokratie und deren Glaubwürdigkeit hinterlässt, sind immens. Während Johnson am Montagabend vor seinem Amtssitz ein Statement abgibt, rufen die Menschen im Hintergrund lautstark "stop the coup" (Stoppt den Staatsstreich).
Der einzige Weg aus dem Chaos
Aber Boris Johnson ist nicht plötzlich und Dschinni-gleich aus irgendeiner Flasche erschienen. Johnson ist das Resultat eines gescheiterten Landes. Die EU wurde zum Sündenbock für das eigene Versagen gemacht, sei es aus Ignoranz vor der ökonomischen und sozialen Schieflage in Großbritannien oder einfach nur aus politischem Kalkül. Das Groteske daran: Über allem steht angeblich der Wille des Volkes. Nur sind die Bürgerinnen und Bürger nie gefragt worden, ob sie das, was sie vor mehr als drei Jahren in einer emotional aufgeladenen, mit Falschinformationen gespickten Volksbefragung mehrheitlich befürworteten, heute immer noch wollen.
Deshalb ist eine Neuwahl wahrscheinlich der einzig verbliebene Weg, dieses Chaos irgendwie zu beenden – wenn Großbritannien noch eine funktionierende Demokratie wäre. Die von Johnson angedrohte vorgezogene Parlamentswahl ist aber längst Teil des politischen Ränkespiels in Westminster. Er will mit seinem Versprechen in den Wahlkampf ziehen, in jedem Fall zum 31. Oktober die EU zu verlassen, und deshalb bereits Mitte Oktober wählen lassen.
Johnson gaukelt den Britinnen und Briten vor, die Europäische Union werde in den letzten Minuten schon einlenken. Eine Verschiebung des Austrittsdatums, so sein Kalkül, würde ihn zu viele Stimmen am rechten Rand kosten. Einen Austritt ohne Abkommen und die damit verbundenen immensen sozialen und ökonomischen Folgen nimmt er billigend in Kauf. Als Mitglied der britischen Oberklasse wird er davon auch kaum etwas spüren.
Brexit, und wenn ja, welchen?
Und was will der Oppositionsführer? Jeremy Corbyn hat es auf wundersame Weise geschafft, die Bürgerinnen und Bürger für mehr als drei Jahre im Ungefähren zu lassen. Will er einen Brexit? Wenn ja, welchen? Oder vielleicht doch ein zweites Referendum? Er wird mit seiner Unentschlossenheit zu einem leichten Opfer für die harten Brexit-Anhänger und fällt als echte politische Alternative aus.
Das Resultat dieser Misere: Viele Briten haben sich bereits radikalisiert und wählen Nigel Farage mit seiner Brexit-Partei – bei den Europawahlen kamen sie auf mehr als 34 Prozent. Oder sie haben resigniert und meiden aktuelle Nachrichten zum Brexit, wie der jüngste Jahresbericht des renommierten Reuters Institute for the Study of Journalism eindrücklich belegt. Ein Grund: Sie fühlten sich machtlos, die Ereignisse noch beeinflussen zu können.
Eine überhastete Neuwahl ändert daran gar nichts. Nur eines ist sicher: Der Brexit wird die Briten noch für viele Jahre heimsuchen.
2019-09-03 10:26:00Z
https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/grossbritannien-brexit-boris-johnson-neuwahl-unterhaus
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